Schon die Anfahrt zu den kleinen Ansiedlungen bei Camama und dem Gebiet El Tastu im venezolanischen Bundesstaat Zulia ist mehr als beschwerlich. Selbst für geländegängige Fahrzeuge sind die Straßen herausfordernd. Öffentliche Verkehrsmittel wie Busse sind auf der Guajira-Halbinsel ohnehin ein Fremdwort. Wer es sich leisten kann, fährt mit dem Moped und transportiert damit gleich mehrere Leute. Die mangelnde Verkehrsinfrastruktur ist für die Menschen hier jedoch nicht die einzige aktuelle Sorge: Jetzt, Anfang August, herrschen erneut Rekordtemperaturen von 42 Grad im Schatten und mehr. Und trotz herrschender Regenzeit fällt kein Tropfen vom Himmel. Die Folge – das Land versteppt immer mehr, unter Hitze und Wassermangel leiden nicht nur die Menschen, sondern auch ihre Kühe, Schafe oder Ziegen.
„Die Wayuu leben in und von der Natur, die meisten besitzen nichts, jammern aber nicht – die Familie ist ihnen das Wichtigste und nur auf Nachfrage sprechen sie über ihre größte Not: Wasser“, erzählt Wolfgang Wedan, Mitarbeiter der österreichischen Hilfsorganisation Jugend Eine Welt, der vor Ort in Venezuela im Einsatz ist. Anlässlich des internationalen UN-Tages der indigenen Völker am 9. August – an dem heuer die Rolle indigener Frauen bei der Weitergabe von Wissen im Mittelpunkt steht – ist Wedan gemeinsam mit Projektpartnern zu den Wayuu gereist, um sich dort in Hinblick auf künftige Hilfsprojekte ein Bild von der Lage zu machen.
Bedrohungen
Die Wayuu sind ein indigenes Volk, das hauptsächlich auf der zwischen Venezuela und Kolumbien aufgeteilten, von Natur aus wüstenartigen Halbinsel Guajira in weit verstreuten kleinen Ansiedlungen lebt. Insgesamt gibt es knapp 700.000 Wayuu, mehr als die Hälfte lebt in Venezuela und stellen dort mit etwa 57 Prozent den größten Anteil der indigenen Bevölkerung des Landes. Traditionell leben die Wayuu von den eher kargen Erzeugnissen des Bodens wie Obst und Gemüse. Früher einmal waren Jagd und Fischfang eine weiterer wichtiger Nahrungsquell. Heute suchen viele ihr Auskommen als Viehzüchter oder arbeiten in der Ölindustrie, etwa in Maracaibo, der Hauptstadt des Bundesstaates Zulia, zu dem der venezolanische Teil Guaijara gehört. Jene in Kolumbien wohnenden Wayuu sind, neben Nahrungs- und Wassermangel, in den letzten Jahren noch von Vertreibung und teils tödlicher Gewalt durch bewaffnete (Drogen-)banden bedroht.
Erzeugnisse wie Käse werden wenn möglich verkauft, aber mitunter gegen Wasser, Kleidung oder Medikamente eingetauscht. Eine staatliche medizinische Versorgung gibt es in der Region defacto nicht. Manch einer kann sich eine Behandlung im nachbarlichen Kolumbien leisten (alle Wayuu haben auch die dortige Staatsbürgerschaft). Sonst wird auf das alte Wissen über Natur- und Kräuterheilkunde zurückgegriffen oder schlicht ein Gebet gesprochen.
„Matriarchale“ Gesellschaft
„Ich hole jeden Tag für meine Tiere mit dem Esel 100 Liter Wasser in Plastikkanistern aus dem nahen See“, erzählte Anita Fernandez, stolze 92 Jahre alt, aus der Siedlung Camama dem Besucher aus dem fernen Österreich. Für Menschen ist das Seewasser jedoch nicht trinkbar. Die öffentliche Versorgung mit Trinkwasser wurde vor Jahren eingestellt, da das Wasserwerk in Maracaibo nicht mehr gewartet werden konnte. Jetzt kommt vielleicht alle zwei Wochen ein LKW mit Wasser vorbei, für das aber die Fahrer illegal pro Liter einen US-Dollar verlangen. Kaum einer der Wayuu hat aber ausreichend oder überhaupt Bargeld.
Eine Besonderheit haben sich die Wayuu bis heute erhalten, nämlich ihre großfamiliäre „matriarchalische Gesellschaft“. An der Spitze der jeweils zusammenlebenden Großfamilien steht die älteste Frau, sie bestimmt die Geschicke der ganzen Sippe. Erben können etwa nur weibliche Familienmitglieder, gibt es keine weiblichen Nachkommen mehr, stirbt der Familienname aus. Und – Streitigkeiten zwischen den Großfamilien werden nur von Frauen ausgetragen und auch beigelegt. „Männer spielen da überhaupt keine Rolle“, weiß Wedan zu berichten. Er ließ sich dieses System in El Tastu, wo etwa 72 Wayuu-Familien leben, von Frau Cira Elena Delgado erklären.
Und noch etwas zeichnet die „Wayuu-Frauen“ aus. „Sie sind begnadete Kunsthandwerkerinnen, ihre kunstvoll geknüpften Taschen, Freundschaftsbänder oder Hängematten lassen sich in Kolumbien gut verkaufen“, so Wedan. Für eine doppelt gewebte Hängematte, in die zwei Frauen gut 500 Arbeitsstunden investieren, gibt’s etwa 80 US-Dollar. In den USA werden diese Hängematten allerdings um gut 700 Dollar weiterverkauft.
Zwei Stunden Fußmarsch in die Schule
Im seit Jahren krisengebeutelten Venezuela gibt es für die Wayuu praktisch keinerlei staatliche Unterstützung. Was zur Folge hat, dass etwa jene Familien, die sich die „Versorgung ihrer Kinder“ nicht mehr leisten können, diese an etwas besser gestellte Familien abgeben. Die Kinder werden mitunter adoptiert und von der neuen Familie großgezogen. „Pensionisten erhalten monatlich drei US-Dollar, derzeit kostet allein ein Liter Milch 4,75 Dollar“, schildert Wedan die drastische wirtschaftliche Misere in Venezuela.
Schwierig ist es für Wayuu-Kinder, überhaupt eine Schule zu besuchen. Viele müssen bereits in jungen Jahren etwa als Schäfer, Hirten, Feldarbeiter oder Handwerkerinnen zum Familieneinkommen beitragen. Noch dazu gibt es in Guajira kaum Schulen. Zu den wenigen müssen die Kinder teils einen zweistündigen Fußmarsch in Kauf nehmen – wohlgemerkt in eine Richtung. „Wir unterstützen deshalb bereits eine von unseren Projektpartnern, den Salesianer Don Bosco, betrieben Agrarschule in El Molinete“, sagt Wedan. So konnte dort beispielsweise jüngst mit Hilfe von Jugend Eine Welt ein neuer, gebrauchter Schulbus erworben werden. Der alte Bus, Baujahr 1982, hatte zuvor endgültig den Geist aufgegeben.
Bildung bringt Erfolg
Was eine gute Schulbildung bewirken kann, dafür gibt es schon die eine und andere „Erfolgsstory“. Beny Ben Palmar, aus sehr armer Wayuu-Familie stammend, predigt heute „ihren SchülerInnen“ jedes Mal, wen sie sie sieht, dass „Bildung Armut überwindet“. Als Aufmunterung, ja weiter in die Schule zu gehen.
Sie selbst konnte einst kostenlos die Agrarschule der Salesianer besuchen. Nach deren Abschluss wurde sie weiter unterstützt und studierte so in den USA an der Harvard-University erfolgreich Agronomie. Dort lernte sie auch ihren von einem indigenen Volk im Alto Orinoco stammenden Mann kennen. Als das internationale Embargo gegen das in Venezuela herrschende Regime von Nicolás Maduro verhängt wurde, beschloss das Paar, in die alten Heimat von Beny zurückzukehren. Um den Landsleuten zu helfen. Sie kauften Land betreiben dort nun eine Rinderzucht. Beny versorgt unter anderem täglich Schulkinder in El Tastu jeweils mit einem Glas Milch, einer Banane und einer Arepa (Maisflade): „Die meisten Kinder kommen mit leerem Magen in die Schule, weil sich deren Eltern kein Frühstück für sie leisten können.“
Lebensgrundlagen erhalten
„Wir wollen die indigenen Völker nicht alleine lassen, wenn es darum geht, ihren Lebensraum für sich und ihre Kinder zu erhalten, ihn vor Ausbeutung zu schützen und Rechte für diese Menschen einzufordern“, erklärt Jugend Eine Welt-Geschäftsführer Reinhard Heiserer das Engagement seiner Organisation. Nach UN-Schätzungen gehören weltweit etwa 370 Millionen Menschen einem der gut 5.000 indigenen Völker an, die in ungefähr 90 Staaten leben. In vielen dieser Länder „geraten speziell indigene Bevölkerungsgruppen zusehends unter Druck – sei es durch den voranschreitenden Klimawandel oder beispielsweise durch den landfressenden und vielfach umweltschädigenden Abbau von begehrten Rohstoffen.“
Als sich Wolfgang Wedan nach drei Tagen Aufenthalt in der Wayuu-Region von den dort getroffenen Menschen verabschiedete, wurden keine (Hilfs-)Forderungen oder konkrete Wünsche an ihn gestellt. Nur eine Botschaft gaben ihm viele auf den Rückweg mit: „Bitte vergesst uns nicht!“
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